Auf einer Kiesfläche mit spärlicher Vegetation hab ich heute kleine, weissblühende Pflanzen erspäht – und zuerst kurz an den Dreifingerigen Steinbrech (Saxifraga tridactylites) gedacht.
Selbstverständlich war diese Spur komplett falsch; es ist kein Steinbrechgewächs (Saxifragaceae), sondern ein Nelkengewächs (Caryophyllaceae).
Also Schlüssel gezückt und mich mit der Bestimmung versucht. Leider waren die Bestimmungsversuche nicht von Erfolg gekrönt sondern scheiterten regelmässig. Mindestens ein Bestimmungsmerkmal wollte nie stimmen... und so speziell kann die Art, welche unweit des Bahnhofs Bern munter gedeiht, wohl nicht sein.
Dies die Merkmale:
- Stängel aufrecht, verzweigt, beblättert; Pflanze kahl, ca. 10 cm hoch.
- Blätter gegenständig, ohne Nebenblätter; Blattspreite lineal, vorne zugespitzt, am Grund etwas verbreitert.
- Blütenstiele länger als die Kelchblätter.
- Kelchblätter frei; (ei-)lanzettlich, vorne zugespitzt; grün, mit einem schmalen hyalinen Rand.
- Kronblätter 5, weiss, vorne rund (nicht gezähnelt, ausgerandet, 2-teilig o.ä.).
- Griffel 3.
Damit komme ich auf Minuartia... und wenn ich beim Längenverhältnis Kelch/Krone ein Auge zudrücke und annehme, dass die Kronblätter kürzer sind als die Kelchblätter, gibts eine Zarte Miere (Minuartia hybrida) draus (Längen der Kron- resp. Kelchblätter bei geöffneten Blüten beurteilt).
Aber ohne ein zugedrücktes Auge gehts ab ins Schilf... denn die Kronblätter bei “meinen” Pflanzen sind so lang oder sogar wenig länger als die Kelchblätter.
Was ist eure Erfahrung? Nachsicht walten lassen was die Kelch/Kronblatt-Länge angeht?
Oder bin ich so oder so komplett auf dem Holzweg?
Herzlichen Dank für eure Hilfe :-) lieber Gruss * Muriel
10 Risposte
Hoi Muriel
Auf jeden Fall Minuartia hybrida! Deinen Kummer teile ich… war auch schon verwirrt, dass ich Pflanzen mit längerer Krone als Kelch hatte und habe mich dann halt über die ‚Schlüsselschreiber‘ geärgert, die, anstatt eigene Erfahrungen zu sammeln, einfach aus bereits vorhandenen Bücher abschreiben….
Das Merkmal ist offensichtlich variabel, müsste eher heissen: „Krone meist kürzer als Kelch“ oder so was.
Herzlichen Dank für die klaren Worte, Jonas!
Kelch-Kummer verflogen, Bestimmungsmoral wieder intakt und Freude an Minuartia hybrida gross :-)
Ich hoffe, die Pflanzen sind genügend unauffällig und damit getarnt (im Stil von "hiding in plain sight") und fallen nicht dem schweizerischen Jät-Eifer zum Opfer.
Ich behalte die Pflanzen auf dem Radar und werde Fotos der Früchte ergänzen, sobald sie reif sind.
Hältst du den Fruchtknoten tatsächlich zwischen deinen Fingern? ;-)
Das war tatsächlich etwas Fruchtknoten-Glück! Er blieb beim Heraus-chnüüble auf dem Daumen kleben und war damit perfekt positioniert für ein Fruchtknoten-Griffel-Porträt.
Liebe Muriel, manchmal könnte man neidisch werden auf die Leute, welche so schön ungeniert im Bahnschotter botanisieren können ;) Klarer Fall von hybrida, so klar diese je ist. Eine variable Art und gerade deshalb spannend. Ich finde die Haltung mit den zugedrückten Augen besser als sich über SchlüsselschreiberInnen zu ärgern. Schliesslich ist das ja gerade spannend, dass wir es hier nicht mit harten Facts zu tun haben, sondern auch immer wieder interpretieren können und sollen. Dass die Art variabel ist, könnt ihr auch hier nachlesen: https://www.blumeninschwaben.de/Zweikeimblaettrige/Nelkengewaechse/unter_saend_ten.htm#1 - bisher haben wir uns in der Schweiz nach der Einteilung von Kew orientiert, aber evtl. könnte das bei der nächsten checklist angepasst werden (am besten Motion bei der Taxonomie von InfoFlora machen ;). Lieber Gruess
Adi
Lieber Adi
Einverstanden und Einspruch zugleich. Natürlich müssen wir beim Schlüsseln oft «ein Auge zudrücken» und «interpretieren». Die Ausgangspunkte sind aber sehr unterschiedlich: Wenn Du als Profi sämtliche Minuartien schon mal gesehen und eine Vorstellung von den einzelnen Arten hast, ist dieses Interpretieren relativ leicht und macht sogar Spass.
Für mich als Anfänger sieht das anders aus. Kleine weissblütige Caryophyllaceen sind eh eine Herausforderung. Ich bin schon mal ganz gut, wenn ich richtig bei Minuartia gelandet bin. Nun hangle ich durch den Schlüssel der Exkursionsflora. Bei Frage 4 heisst es zum Kelchblattrand «oft» schmal trockenhäutig. Da weiss ich also: Vorsicht! Kann auch anders sein. Bei Frage 6 aber steht eine sehr eindeutige Weiche. Bei den Bildern von Muriel würde ich klar Variante Kronblätter gleich lang oder länger als Kelch wählen und dann in einer Sackgasse landen. Wenn bei Frage 6 stehen würde «meist» kürzer als der Kelch, dann weiss ich ebenso: Vorsicht! Wenn es aufgeht, gut, sonst zurück zu Frage 6.
Natürlich wird der Schlüssel unschön, wenn es ständig heisst «oft» oder «meist» oder dergleichen. Für Anfänger wie mich sind solche Hinweise aber sehr wertvoll, um zu erkennen, welche Weichen eindeutig sind und welche mehr ein Tendenzmerkmal angeben und unsicher sind.
Eine Möglichkeit wäre, variable Arten einfach zweimal zu verschlüsseln. Das ist in einigen Pilzbestimmungsschlüsseln das Fall. In der Botanik macht man das leider aber nur selten…
Generell begrüsse ich es, wenn möglichst mehrere Merkmale verschlüsselt werden. In der Exkursionsflora für Österreich wird M. hybrida zwar ebenfalls mit dem Krone-/Kelchlänge-Merkmal geschlüsselt, zusätzliches Merkmal ist aber „Pflanze 1-jährig“ versus „mehrjährig“. So was hilft natürlich ungemein.
Grundsätzlich sollten aber natürlich möglichst klare und nicht variable Merkmale in Schlüsseln verwendet werden… der Frust bei Anfängern sowie Studenten, mit denen ich regelmässig Bestimmungsübungen mit dem FH-Exkursionsführer mache, steigt leider bei Fragen bzgl. variablen Merkmalen rasch und das Vertrauen in den Sinn von Schlüsseln sinkt, wenn man immer wieder ‚interpretieren‘ muss..
Danke @Adi, Jonas und Marc!
Ich denke es macht Sinn, ab und zu ein Auge zuzudrücken. Die Frage ist für mich aber, in welchen Situationen und wie oft ich diese Strategie fahre. Konkret drücke ich bei Unterarten und Kleinarten meine Augen sehr oft komplett zu, da der Interpretationsspielraum für meinen Geschmack etwas sehr gross ist.
Bei Schlüsselmerkmalen teile ich die Meinung von Jonas. Variable Arten gerne 2x verschlüsseln.
Und lieber wenige, gute, verlässliche, “belastbare” Merkmale als eine Auswahlsendung. Das ist zwar nicht immer möglich - aber dort wo es machbar ist, habe ich auch den Wunsch, dass es klar und deutlich formuliert wird.
Eine entsprechende Motion oder Petition unterschreibe ich natürlich gut schweizerisch sofort resp. reiche sie auch gerne ein.
Klare Merkmale erscheinen mir grundsätzlich immer wichtiger. Interpretieren und Augen zudrücken kann KI auch. Aber die Botanik-Fraktion (zu der ich mich auch zähle) sollte nicht Wahrscheinlichkeiten liefern, sondern Argumente und Erklärungen, wieso eine Pflanze so oder anders heisst. Wir erreichen bei einer Bestimmung 100% und wissen auch, wieso (hoffentlich). Das kann KI zumindest jetzt (noch) nicht. KI liefert nette Wahrscheinlichkeiten, was natürlich eine Hilfe sein kann (die ich selber auch ab und zu in Anspruch nehme). Aber KI liefert keine Bestimmungen. Und sichere, klare, nachvollziehbare Art-Bestimmungen sind das A und O, gerade auch wenn es um Kartierungen oder Artenschutzprojekte geht.
P.S. Mit Botanisieren im Bahnschotter ist nix; die gute Minuartia hybrida wächst on-safe-ground in einem mit groben Kieselsteinen bestückten Vorplatz unweit des Bahnhofes. Aber ja, mit Eisenbahn hatte der Fund indirekt schon zu tun, ich hatte Pause und war am rumspazieren :-)
Zum Thema "Schlüssel" möchte ich folgendes loswerden:
Ich unterstütze die Meinung von Marc Henzi und ich wundere mich, warum Schlüssel nicht öfters als App oder Web-Applikation verfügbar sind. Eine solche erleichtert die "usability" erheblich.
Folgende Vorteile fallen mir ein:
- die gewählten Entscheidungen werden aufgelistet und eine Entscheidung kann leicht und einfach geändert werden auch wenn diese mehrere Schritte zurückliegt.
- die noch in Frage kommenden Pflanzen werden aufgelistet und das ist oft auch eine Entscheidungshilfe
- der "Weg zurück im Schlüssel", wie ihn z.B. die Flora-Helvetica-App anbietet, ist auch eine hilfreiche Anzeige
- im Feld muss ich kein schweres Buch mittragen, das Handy ist sowieso mit dabei.
- Fehler sind in einer Web-Applikation mit Backend deutlich einfacher zu korrigieren als in einem Buch, welches eine Neuauflage erfordert.
Eine Art 2x zu verschlüsseln könnte schwierig werden, sobald der Schlüssel umfangreich ist und weitere Doppelentscheidungen innerhalb eines Weges auftreten könnten.